Dr. Ulrike Lorenz
Direktorin der Kunshalle Mannheim

Ershuu Otgonbayar – WHITE
Eröffnung Galerie Peter Zimmermann, 12.6.2015

Der  Gang über Grenzen, ein Wechsel der Kulturen verheißt Freiheit ebenso wie Gefahr. Wer die weglose Wildnis zwischen zwei Welten durchdringen will, tut dies auf eigenes Risiko. Er ist vor Überraschungen und Täuschungen nicht sicher. Jeder Schritt kann ein Scheitern sein oder die Chance, zu neuen Horizonten und Einsichten vorzustoßen. Und dies gilt immer für beide Seiten, in diesem Fall für den Künstler und den Betrachter seiner Bilder.

Wir stehen zwischen Leinwänden, die zu Landschaften werden. Fremde und doch seltsam vertraute Welten tun sich vor unseren Augen auf. Horizontlose Wildnisse, in denen sich geheimnisvolles Leben entfaltet. Figurenreiches Gewimmel, eingewoben in ein dichtes Gefüge aus sich mehrfach überlagernden Farbspuren.

Was von fern wie eine überraschend lebendige Wiedergeburt informeller Strukturen wirkt, erweist sich beim Näherkommen als löchriger Text auf der Höhe postmoderner Ironie und beim Herantreten an die Oberflächen als ein graphisch ausgeklügeltes Gewebe comic-artiger Figurationen in paradiesischer Unschuld und heiligem Ernst, also ohne jeden Hang zu Satire und Gegenwart.

Was wir hier sehen, ist im wahrsten Sinne des Wortes: vielschichtig. Wir sehen: ein lasierendes Aufeinanderstapeln abstrakter Farbverläufe einerseits und ein flächenhaftes Verknoten, Verwirbeln und Vernetzen feinziselierter, schablonenhafter Mensch-Tier-Agglomerationen andererseits. Und wir sehen: das virtuose Ineinanderschieben dieser beiden unvermischten und perspektivlosen Ebenen der Bildgestaltung – weit jenseits von Wahrnehmungskonventionen, die uns vertraut sind. Abstraktion und Figuration lösen sich nicht auf, sondern entfalten - unvereint - ihren vollen Antagonismus.

Aber statt, dass die Bildwelten explodieren und zerfallen, entspringt aus dem auf der Leinwand gebändigten Widerspruch ein unerwartetes, nie gesehenes Großornament: visuell flirrend, ikonografisch ambivalent. Faszinierend wirkt die ostentative Widersprüchlichkeit zwischen dem wuchernden Gestaltchaos und einer obsessiven Systematik.

Kurzum: Was wir sehen, entzieht sich dem eindimensionalen Zugriff von Beschreibung und Interpretation. Vorsicht also beim Betreten eines unbekannten Terrains, das zu Recht Neugier weckt.

Nur so viel lässt sich am Beginn unserer Reise ins Unbekannte sagen: Diese überraschenden Bilder sind HYBRIDE. Sie markieren einen unbestimmten Ort kultureller Überschneidung. Die Soziologie definiert Hybridität als ein Phänomen, das in Situationen auftritt, in denen antagonistische Denkinhalte und unvereinbare Logiken aus unterschiedlichen kulturellen, sozialen oder religiösen Lebenswelten zu neuen Handlungs- und Denkmustern zusammengesetzt werden. Vorzugsweise in diesen Situationen entsteht kulturelle Dynamik. Und - füge ich hinzu - in einer solchen Konstellation entsteht die Chance zu echter Erneuerung.

Ershuu Otgonbayar  - der sich als Künstler selbst Otgo nennt - wurde am 18. Januar 1981 am Rande Ulaanbataars, der Hauptstadt der Mongolei, als sechster Sohn des einfachen Arbeiters Erschüü geboren. Zwischen Zentral-, Nord- und Ostasien gelegen, ist das Steppen- und Halbwüstenland fast fünfmal so groß wie Deutschland und mit 3 Millionen Einwohnern der am dünnsten besiedelte unabhängige Staat der Welt. Jahrtausendelang lebten hier Nomaden, die Dschingis Khan Ende des 12. Jahrhunderts für kurze 70 Jahre zu einem Weltreich bündelte. Seitdem steht das Land unter dem geistigen Einfluss des Buddhismus und Lamaismus, alte Religionen die selbstverständlich die - nach der Sowjetunion zweitälteste - sozialistische Volksrepublik überlebten.

Der Maler Otgo wuchs mit sieben Geschwistern und einem Adoptivbruder am anderen Ende der Welt auf. Er zeigte früh seine künstlerische Begabung und studierte in den 1990er Jahren Malerei an der Kunsthochschule in Ulaanbataar. Danach widmete er sich sechs Jahre lang dem Selbststudium der traditionellen mongolischen Miniaturmalerei und arbeitete zeitweise als Restaurator. Und er machte sich auf den Weg zu den Quellen: zwei Jahre nomadisierte er durch seine Heimat, reiste zu Fuß und zu Pferd, mit Schiff und Flugzeug durch das ganze Land, in die verstecktesten Winkeln, zu Dörfern und Klöstern. Er traf auf die unterschiedlichsten Menschen und lebte mit seinen Lehrern zusammen. Seine Liebe zum Land und zur Religion seiner Väter wurzelt in dieser Zeit.

Otgo eignete sich die Techniken, Ikonografien und spirituellen Hintergründe der mongolischen Miniatur-Malerei in den buddhistisch-lamaistischen Klöstern im traditionellen direkten Lehrer-Schüler-Verhältnis an und begann, alle Malutensilien selbst herzustellen. Er wurde ein Meister in der Thangka-Malerei, die für ihn mehr Philosophie, denn Handwerk ist. Ein Thangka ist ein Rollbild des tantrischen Buddhismus (Lamaismus). Es wird zur Meditation in Tempeln oder Hausaltären aufgehängt und bei Prozessionen mitgeführt.

Otgo malte mit feinsten Haarpinseln ohne optischen Hilfsmittel auf winzigen diagroßen Formaten (6 x 7 cm) Hunderte von Buddhas, Bodhisattvas und Schutzgottheiten: Einzelfigurationen von filigranster Ornamentik. Seine geheimnisvollen Schwarz-grundierungen sind aus Ruß und Milchschnaps angemischt, die Farben bestehen aus mineralischen und pflanzlichen Pigmenten, gebunden mit Leim aus Yakhaut.

Otgo erfindet sich als Künstler innerhalb eines definierten Kanons neu. Malerei wird für ihn zur Meditation, ohne konkrete religiöse Intentionen. Er arbeitet im spirituellen Geborgensein der Vorstellung, dass die Energie durch die lebendige Gottheit auf ihn als Werkzeug übergeht. "Tangkamalerei bedeutet, dass der Geist malt, nicht die Hände, wie Meditation schenkt sie neue Kraft und Energie.“ Wenn der Maler erst ganz am Schluss den Gesichtern seiner heiligen Figuren Augen gibt, erwacht die Gottheit zum Leben.

Die wichtigste Grundlage für diese Malerei ist das natürliche Licht. In der Mongolei scheint an 300 Tagen im Jahr die Sonne. So wurde Deutschland zur Herausforderung. Denn Otgonbayar  siedelte nach staatlichen Auszeichnungen und Ausstellungen in aller Welt 2005 nach Berlin um und fing 2007 noch einmal ein Kunststudium an, diesmal im Institut für Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin. Er schloss es 2010 mit dem Master of Arts ab.

Der Künstler erwarb auf diese Weise nicht nur die Kenntnis über Techniken, Ikonografien und das Selbstverständnis westeuropäischer Kunstgeschichte und Gegenwartskunst, er tauchte auch ein in die aktuellen Diskurse um Malerei und Medien, Moderne und Postmoderne. So ging er über Grenzen in eine neue Welt und erweiterte seine Horizonte, ohne die frühen Prägungen zu verdrängen. Otgo arbeitet in Deutschland nicht nur als Maler, sondern engagiert sich auch stark im künstlerischen und geistigen Austausch zwischen Europa und seiner Heimat. Mit seiner Galerie Zurag in Berlin bietet er einen künstlerisch geprägten Schutzraum an, an dem sich Ost und West treffen, wo die Wahrnehmung mongolischer Kultur ermöglicht wird und in dem auch der mongolische Ministerpräsident schon einmal absteigt.
 

In Deutschland fehlt das Licht, "der Himmel ist fast immer dunkel". Doch Deutschland wird nun der Ort, an dem Otgo in den fünf Jahren nach dem zweiten Studienabschluss seinen originären Hybridstil entwickelte, in dem nichts vermischt und aufgelöst wird, sondern sich die kulturellen Prägungen zweier Welten gegenüberstehen: im Bild und als Bild bezwungen.

Otgo bringt die technische Virtuosität und die ikonografischen Tradition der mongolischen Miniaturmalerei, die er innerhalb seines heimatlichen Kulturkreises bereits zeitgenössisch interpretiert hat, ein in die westliche Tradition einer auf die eigenen Bildmittel bezogenen, selbstreferentiellen Kunst, die seit Manet und dem Impressionismus den Weg in die Abstraktion gegangen ist. Mit der Durchdringung dieser zwei entgegengesetzten Bildbegriffe gestaltet Otgo eine Synthese. Seine Malerei erweist sich als ein eigenständiges visuelles Phänomen. Die bewusst herbeigeführte und künstlerisch auf hohem Niveau bewältigte Situation der Hybridität in der Überlagerung zweier Kulturen wird zum Einfallstor für Neues.

Zu beobachten ist, dass die aktuelle Entwicklung Otgos zu größerer ikonografischer Freiheit und Abstraktion geht. Das graphische Wimmel-Drama, die Kamasutra-Erotik wird zugunsten eines beruhigten Figurenkosmos in paradiesischer Verschlingung zurückgenommen. Die malerische Textur tritt als gleichberechtigter Partner immer stärker in die Bildfindung ein.

Nach einer Phase intensiver zeitgeistiger Neon-Farbigkeit, weisen im Moment pastellhafte Grundtöne stärker auf die Fläche zurück. Dafür nehmen die malerischen Strukturen gestische Züge und experimentellen Charakter an. Die einzelnen Bildelemente lösen sich mehr und mehr auf und bilden hybride Mischformen, die sich in Wellenbewegungen und Meta-Mustern über die homogeneren Bildoberflächen ziehen.

So stehen wir heute vor expressiver Acrylmalerei mit filigranen Tuschzeichnungen auf Baumwoll-Leinwänden. Zebraschwärme, von Frauenkörpern in Streifenkostümen begleitet, entfalten einen op-artigen Wirbel. Pinguinkolonien scheinen in informellen Texturen auf, um im eisblauen Orkus zu verlöschen. Unüberschaubare Pferdeherden galoppieren über türkisfarbene Steppen einem Abend der Existenz entgegen, wunderbar im Licht des letzten Ausstellungsraums changierend. Im titelgebenden Triptychon „white“ entdecken Sie zwischen schneeigen Farbgittern ein ornamentales Gewimmel nackter Menschenkörper und mongolischer Tierwelt mit Gazellen und Wildziegen, Schneehasen und Schneeleoparden. Zu Recht zwergenhaft wirkt der Mensch im Universum der Bilder. Die traditionsgemäß ohne Lupe gemalten Figurationen fügen sich in der Fernwirkung zum textilen Gewebe zusammen. In diesem Kosmos ist alles einer unablässig transformierenden Bewegung unterworfen, die wie der Atem eines Gottes durch die Elemente geht.

Ershuu Otgonbayar  hat sich zu einem selbstbewussten zeitgenössischen Künstler im westlichen Kontext entwickelt, der die Kunstentwicklung seiner Heimat von hier aus inspiriert. Mit Recht kann man ihn daher wohl als bedeutendsten mongolischen Künstler der Gegenwart bezeichnen. Doch aus meiner Sicht ist er mehr: Vertreter einer internationalen Malergeneration im Zeitalter der Post-Postmoderne. Er sorgt innerhalb der zeitgenössischen nachmedialen Malerei für einen Erneuerungsimpuls. Ein Impuls, der die Ebenen von Bild und Bedeutung beim Ineinanderschieben durchlässig macht. Wir erleben eine malerische Sprache, die komplex, expressiv und originär ist - ein Oeuvre, das uns bezaubert und verblüfft.                    
                                    © Ulrike Lorenz 2015






Einladungskarte der Ausstellung:
WHITE solo-exhibition OTGO 2015

Galerie Peter Zimmermann, Mannheim


penguins -3 by OTGO 2015 acryl on canvas 160 x 150 cm
penguins -3 by OTGO 2015 acryl on canvas 160 x 150 cm









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